Auch die Wirtschaftspsychologie befasst sich seit den 1970er-Jahren mit dem Begriff Charisma beziehungsweise dem Modell der charismatischen Führung. Diesen Ansätzen der Führungsforschung ist gemein, dass sie sich auf die Notwendigkeit einer Vision als bindendes und verbindendes Element von Charisma beziehen. Die Interaktion charismatischer Führungskräfte wird hier nur beiläufig
erwähnt.
Für den US-amerikanischen Wissenschaftler Robert J. House ist charismatische Führung eine Kombination aus persönlichen Eigenschaften des Führers, seinem Verhalten und situationsbedingten Faktoren. Zu den persönlichen Eigenschaften gehören für ihn ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, die Tendenz, andere Menschen zu dominieren und zu beeinflussen, sowie eine starke Überzeugung, was die eigenen Werte betrifft. Die Führungskraft muss, um mögliche Anhänger von diesen Werten zu überzeugen, eine Vision formulieren und ihr Image so ausrichten, dass sie kompetent und erfolgreich wirkt. Die Anhänger der Führungskraft akzeptieren deren Wertesystem, und wenn es gelingt, den Anhängern zu vermitteln, dass sie den Zielen gerecht werden können, so fühlen sich diese motiviert, diese Ziele tatsächlich zu erreichen und den Anführer zu unterstützen. Die Situationen, die einen charismatischen Führungsstil besonders begünstigen, sind, so der Wissenschaftler, Krisenzeiten, weil genau dann die Menschen eine richtungweisende Vision brauchen.
Boas Shamir, Anthropologe und Soziologe, hat die Arbeit von House weitergeführt und die Frage untersucht, was Menschen dazu motiviert, einen Anführer zu unterstützen. Er fand heraus, dass die meisten Menschen bestrebt sind, die eigene Identität zu bekräftigen beziehungsweise zu bestätigen und so ihr Selbstkonzept zu stärken. Charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt es, das Selbstkonzept der Anhänger mit ihrer Vision in Einklang zu bringen. Die Anhänger identifizieren sich mit der Vision und bemühen sich um deren Umsetzung. Dafür werden sie mit einem erhöhten Selbstwertgefühl belohnt.
Einer der renommiertesten Charismaforscher, Jay A. Conger, hat die Kapitelüberschriften in seinem Buch „The Charismatic Leader“ entsprechend seiner nüchternen Betrachtung der großen Führungspersönlichkeit benannt: eine Vision vermitteln, die inspiriert, den Eindruck von Glaubwürdigkeit sowie Sachverstand aufbauen, andere ermuntern, den Traum zu verwirklichen, außerordentliches Engagement bei Gefolgsleuten hervorrufen. Um diesen Zweck zu erreichen, braucht es, so Conger, keine langatmigen Strategiepapiere, sondern knackige Parolen: „People need something simple.“
Die Führungskraft als Vorbild
Charismatische Führung entsteht nach Conger in einem mehrstufigen Prozess: Die Führungskraft analysiert zuerst den Status quo und deckt dessen Unzulänglichkeiten auf. Daraufhin formuliert sie eine Vision, die den Status quo dramatisch verändern wird. Je stärker die Vision vom Status quo abweicht, desto mehr erscheint es, als habe der Führer eine außerordentliche Vision und nicht nur einfache Ziele, und desto mehr Charisma wird man ihm zuschreiben. Der Führer stellt sich zudem selbst als Vorbild dar, indem er Risikobereitschaft beweist und durch unkonventionelles Fachwissen Vertrauen seitens der Anhänger gegenüber der Vision aufbaut und zeigt, wie die Ziele erreicht werden können. Dieses Vertrauen ist überaus wichtig, denn nur, wenn die Menschen dem Führer vertrauen, identifizieren sie sich mit ihm und sind bereit, die Vision umzusetzen. Charismatische Anführer zeigen aber auch Sorge und Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Anhänger und berücksichtigen diese in der Formulierung ihrer Vision.
Denken Sie daran:
Charismatische Anführer
zeigen auch Sorge und Verständnis
für die Bedürfnisse ihrer Anhänger.
Barack Obama hat diesen Prozess während des Wahlkampfes meisterhaft umgesetzt, indem er dem Status quo am Ende der Bush-Ära, nämlich der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression, seine Vision vom „Change“ entgegensetzte. In seinen Reden sprach er häufig über die Geschichten, die Menschen ihm erzählt hätten, die ihn in ihr Heim eingeladen hätten. Die Menschen hätten ihre Geschichten „mit ihm geteilt“ und ihm gezeigt, dass „wir eine grundlegende Veränderung“ in diesem Land brauchen, die „ich Ihnen bringen werde“. „Ich bin absolut davon überzeugt, dass wir das tun können.“ Die knackige Parole: „Yes We Can !“
Von der Analyse des Status quo und dessen Unzulänglichkeiten über die Vision und den Aufbau von Vertrauen durch Verständnis und Sorge für die Zukunft der Menschen – in 0bamas Reden sind alle Elemente vorhanden, und dieser Aufbau von öffentlichen Statements hat sich auch während seiner Präsidentschaft nicht verändert. Und daraus können nicht nur Führungskräfte, „Leader“, etwas lernen, sondern jeder, der andere Menschen positiv beeinflussen möchte.